Die tägliche Dosis Lyrik
Bescheid
Im Briefkasten
ein dicker Umschlag
Finanzamt
Draußen Dauerregen
Oben angekommen
fünfter Stock
direkt aufs Klo
Umschlag aufreißen
Feststellungsbescheid
Zwanzig Seiten
Zahlenkolonnen
Paragraphenangaben
Rechtsbelehrungen
Sie wollen Geld
Was sonst und
nicht zu knapp
Endlich löst sich
die Verstopfung
Danke Finanzamt
Brief und Bescheid
werfe ich auf
den Boden
Jetzt einen schönen
Southern Comfort
11/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Wir waren
Er war nur
mein Stiefopa
Er mochte mich
und ich ihn
Ich war Kind und
wir spazierten fast
jeden Tag im
Schwarzwald und
er erzählte vom Krieg
Russland Moskau
Archangelsk-Kirche
im Scherenfernrohr
Verlegt nach Italien
Monte Casino und
am Ende Bologna
Wir waren wie Tiere
es wird keine
Vergebung geben
sagte er und weinte
Arbeiten konnte er
nur noch wenige
Stunden dann begann
das Zittern
Ich mochte ihn
und er mich
10/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Als sie starb
Ich roch an der Rose
Als sie mir aus der Hand flog
und auf dem Papier landete
dachte ich sie stirbt
Und sie starb
Rot und sterbend
lag sie vor mir
Es ist mein Leben
das mir entglitten ist
Doch sie roch nach Rose
als ich sie wieder
in die Hand nahm
und meine Nase
in den Blütenkelch hängte
und dieses Gedicht schrieb
Ich schloss die Augen
sah die Rose
und sah mich
10/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Unzählige
Wie viele sitzen
hier wie ich
und schreiben
weil sie brennen
Wie viele stehen
dort draußen an
roten Ampeln und
wollen einfach losgehen
Wie viele sitzen abends
vor dem Bildschirm
denken an die Angst
vor der Nacht
Wie viele sitzen
vor dem zehnten
Glas und hoffen
auf zehn weitere
Wie viele hoffen
auf einen Traum
und sterben in der
traumlosen Welt
Wie viele wollen
machen und werden
nur gemacht
08/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Nur Fotos
Bilder sind
immer ohne Worte
meist ohne Sinn
Stilles Einfrieren
einer Zehntelsekunde
Unsere Erinnerung
an diesen Moment
verblasst zusehends
Was bleibt übrig
Nur die Veränderung
Ich werfe die
meisten Fotos weg
Das Leben ist
immer das Jetzt
nicht das Gestern
Und für das Morgen
gibt es noch
keine Fotos
Für das Morgen
gibt es nur
Angst und
Neugier
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Orchidee hinter Glas
Heute das
Verliebtsein
gestanden
Und jetzt
im Wasser
Kochend
Eisig
Kochend
Ist in etwa
als würde man
täglich vor dem
Blumenladen stehen
die prachtvolle Orchidee
bestaunen
Schweigend
Regen Frühling
Hagel Sommer
Völlig egal
Da steht sie
hinter der Scheibe
Und ich davor
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Endlich
Gerade beginnt
der Regen
Wir kommen aus
verschwitzten Glutlöchern
Kühle Tropfen reiten
auf dem Wind durch
die Stadt klauen allen
Hitze Unerträglichkeit
Polizei braust vorbei
Platanenblätter rauschen
wie Blut in den Adern
meiner Ohren die
meilenweit hören
Baumaschinen Lokomotiven
Kindergeschrei
einsame Menschen
Doch auf einmal
ist wieder Ruhe
Kühler Wind auf
meinem Gesicht
Weiß nicht was ich
sagen soll
07/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Safe
Sonnenlicht
bricht durchs
dreckige Fenster
Gleißend brennend
Das Leben bleibt
vor der Scheibe
stöhnt und ächzt
geht in die Knie
Unfall auf Kreuzung
Hasten und Hetzen
Husten Keuchen
Kinderwagen dazwischen
38-Tonner neben sich
Tiefflieger überall
Balkontür verrammeln
Matratzen vor
Fenster und Türen
Die Nacht kommt
nimmt der Sonne
das Licht und
der Straße
das Leben
07/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Fundbüro
Was ich suche
gab es vor
hundert Jahren
oder eintausend
Ich suche Menschen
die es verdienen
menschlich genannt
zu werden
Ich will keine
Egomanen
Selbstsüchtige
Darsteller eigener
Unzulänglichkeiten
Möchtegerngötter
Unbarmherzige
Rassisten oder
Nazigesocks
Keine feine Herren
die auf Kinderleichen
schlafen und essen
Was ich suche
ist die Nadel
im Heuhaufen
Man findet sie
indem man den
Heuhaufen
abfackelt
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Strandleben
Auf der Mole
harre ich der Dinge
die da kommen
in Form von jeder
Menge Fleisch
Menschen aller Art
die es ans Meer zieht
Eimer Kühltaschen
Sonnenschirme Grillkohle
Surfbretter Campingstühle
Tupperware Bier
Ghettoblaster
Ihr halber Hausstand
Dann ist da noch der
mit Notizblock
und Kugelschreiber
Der nicht weiß
was er hier soll
und ob er unter
diesen Menschen
sein will
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Normandie
Die Straße schlecht
Von der Kuppe
sieht man ins Tal
Eine Kathedrale
im Nebel den
das Meer schickt
Hügel und Täler
und mich bedeckt
Steingraue Häuschen
glänzen feucht
wenn die Sonne durch
den Dunst bricht und
pausbackige Menschen
mit harten Gesichtern
gefurchten Lebensjahren
auf alten Fahrrädern
sichtbar macht
Grimmig blickend
Ich gehe weiter
ins Tal und spüre
dass ich niemand
mehr bin
07/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Zeremonie
Tage sind zähes Fleisch
Menschen auf Deponien
Leben suchend im Müll
Gift in den Adern
Seelen wie grünes Gelee
über einem als Strohfeuer
erscheinenden Todesbrand
Lippen unbeweglich
kalte Worte hauchend
Ameisenhaufenstädte
Zugbrücken hoch
Die Zeremonienmeister
kommen und lassen
uns alltägliches Glück
beten hoffen verlieren
Dort im Fernsehen
bleibt unser Herz warm
unser Hirn klein
unsere Zukunft
sinnlos
04/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Mann vom Land
Ein hoffnungsloser Fall
in jeder Hinsicht
Entziehungskur
Strafversetzt
Nicht der Hellste
Aber ehrlich treu lieb
Die Lebensbahn kippt
ins Bodenlose
Postschaffner und
immer betrunken
Wodka und Gin
seine Freundinnen
Wir mochten ihn
im Nachtdienst
und fanden ihn
auf dem Boden
an einem Freitag
Hose Unterhose aus
zwischen Unrat
und gelben Fliesen
07/2023
Die tägliche Dosis Lyrik
Zwei Welten
Heute Nacht
betrunken am Computer
Gedichte in
Tastatur dreschen
Danzig hören
Polizei ruft an gegen drei
Die Schachtel unten
hat sich beschwert
Heute Morgen
Toccata und Fuge
im Schädel
Keine Erinnerung
Kaffee und Kippen
frühstücken und
das Geschriebene
entziffern unlesbar
Kyrillisch oder Farsi
Sinnloses Zeug
aus einer anderen Welt
War noch jemand
in der Wohnung
Ich überlege
suche Spuren
Nur eine Flasche
nur ein Glas
12/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
An einem Abend
Ich will euch
nichts vormachen
Vor diesem leeren
Blatt Papier sitzen
weinen
Nicht durchdrehen
den Wahn beiseite
schieben und den
Sinn nicht suchen
Tatsächlich sein
Normal leben
denken atmen
sterben ist zu schwer
Ich ersuche um
Aufschub
Zumindest bis der
Füller seine Tinte
loswurde und ein
Gedicht auf dem
Weiß schillert
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Gegenteiliges
Die Nacht wird
zum Tag und der
zu unserer Finsternis
unter einer Sonne die
uns verbrennt
Ausglühen lässt in
winddurchtoster Wüste
im Sand so fein
dass er des Menschen
Inneres füllt sättigt
konserviert austrocknet
Straßenschluchten
ebnet und nichts
bleibt als die Dächer
unserer Zuhause
Aber nehmt es
nicht für ernst
denn es war nur
ein Traum
Oder eine Hoffnung
Ich weiß es
noch nicht
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Hört mal her
Für alle die eine
momentane oder
dauernde und tiefe
Unzufriedenheit spüren
die das Herz verödet
Euch mit festem Griff
unter Wasser drückt
die ihr Heil
durch steten Wechsel
vertrauter Dinge
sichern wollen
sei gesagt
Es ist vergeblich
Ihr seid verloren
Vom ersten
Atemzug an
Das Glück winkt euch
aus der Ferne zu
zeigt euch den Finger
Den großen Moment
werdet ihr mit dem
letzten Atemzug
erleben
06/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Erstaunlich
Die Pflanze
ist grüner und
hat viel mehr Blätter
bekommen
nachdem ich
jeden Tag mit
ihr rede
Natürlich
Zuspruch brauchen
wir alle ab und zu
Ich kann sie
wachsen sehen
Sauerstoff gegen
Worte wäre
zu einfach
Gedankenaustausch
das ist was zählt
Ich werde mit dem
Southern Comfort
reden und schauen
ob er meine Lage
verbessern kann
05/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Augen
Bei vielen
verschlossene Türen
oder leere Büchsen
bei ganz wenigen
eine zweite Welt
hinter dem was
wir anderen
sehen können
Verliebe ich mich
dann immer zuerst
in die Augen
Durch einen
Vorhang aus Wasser
hindurchschreiten
in die Höhle
die keine ist
Nichts bleibt
unentdeckt
Nichts lässt
sich verstecken
in den
Augen
05/1993
Die tägliche Dosis Lyrik
Die Feder
Du bist
eine Knospe
mit viel Angst vor
dem letzten Maifrost
in dieser kühlen
dunklen Nacht
Mit einer Feder
in der Hand
bin ich die Sonne
deren Licht dich
umkreist
bis die Angst
dich endlich
verlässt
und wir uns
in den Armen
liegen
die Augen
öffnen
und die
Welt
suchen
05/1993